Der „Tatort“ ist unter den Fernsehsendungen ein ähnlicher Methusalem wie das alte Schlachtschiff „Tagesschau“. Seit über 30 Jahren gehört er für ein Millionenpublikum fest zum Sonntagabend; mit mehr als 800 bisher produzierten Folgen ist er die am längsten laufende deutsche Krimiserie. Und kaum eine Sendung vereint so viele Millionen Zuschauer vor der Flimmerkiste. Seit einiger Zeit ist der Tatort sogar „Kult“: es gibt in den Großstädten viele Kneipen, die neben dem „Public Viewing“ der Bundesligaspiele ihren Gästen den Genuss des aktuellen „Tatort“ gönnen. Wer sonntags zwischen 20:15 und 21:45 Uhr bei Twitter nach dem Hashtag #Tatort sucht, bekommt aktuelle Kommentare im Sekundentakt.
Seitdem ich mit meiner Frau zusammen bin, die seit jeher ein großer Tatort-Fan ist, verpasse auch ich nur selten einen „Tatort“. Nicht jedem erschließt sich die Treue des deutschen Publikums zu seiner Lieblins-Krimiserie. Erst heute konnte ich wieder einen Blogbeitrag lesen von jemandem, dem sich die „Faszination Tatort“ einfach nicht erschließen mag. Grund genug mich mal selbst zu hinterfragen warum ich dem Tatort nun – ebenfalls wie meiner Frau – seit vielen Jahren die Treue halte.
Der „Tatort“ bietet einfach eine einmalige Vielfalt. Denken wir mal an andere Serien wie etwa „Desperate Housewives“: immer die gleichen Gesichter, immer die gleichen Kamerafahrten, ja sogar von Staffel zu Staffel die gleiche Musik. Oder „Big Bang Theory“, „Friends“ und „How I Met Your Mother“: auch hier haben wir Charaktere, die uns von Episode zu Episode zu Episode begleiten; Handlungen spielen sich meist an einigen festen Plätzen ab – es gibt die eine Wohnung (vielleicht auch ein, zwei mehr), in der sich alle treffen, das eine Stamm-Café, die eine Stamm-Kneipe usw. Nicht falsch verstehen: auch diese Serien mag („Friends“) oder liebe („HIMYM“, „TBBT“) ich sehr. Doch der „Tatort“ ist oftmals eine wahre Wundertüte. Hier wird gerne mal experimentiert. Der eine hat eine ganz klassische Kameraführung wie ein x-beliebiger Fernsehfilm, andere versuchen sich (teilweise sehr gekonnt) am Kino-Format mit außergewöhnlichen Kamerablickwinkeln oder gekörntem Bild. Es gibt keinen vorgegebenen Stil.
Hinzu kommt eine – wenn teilweise auch nur pseudohafte – Regionalität. Ein norddeutscher „Tatort“ fühlt sich oft anders an als ein süddeutscher – nicht nur weil statt der Frauenkirche der Hamburger Michel zu sehen ist. Verschiedene Dialekte und verschiedene (Stereo)Typen verleihen dem „Tatort“ oftmals ein interessantes Lokalkolorit. Hinzu kommen die vielen verschiedenen Ermittler – manche mag ich mehr (Köln, München, Berlin), manche mag ich weniger (Bodensee, Österreich). Aber auch sie bringen Abwechslung ins Spiel. Während die Kölner wohl noch am ehesten als typische „Partner-Cops“ durchgehen, die auch mal gemeinsam einen drauf machen, sind die Münchner eher wie ein altes Ehepaar, bei dem jeder auf eine ganz besondere Weise sich für das Leben und Wohlergehen des anderen interessiert. Die aktuellen Frankfurter (die sich ja leider schon wieder trennen werden) geben hingegen ein Pärchen, das sich ordentlich aneinander aufreiben kann. Der neue Dortmunder Kommissar, gespielt von einem hervorragenden Jörg Hartmann, gibt den einsamen Wolf, der einige psychische Probleme mit sich herumschleppt und der Kotzbrocken des Dezernats ist. Auch hier also: Vielfalt. Die vorhandenen Charaktere bieten dem Zuschauer eine gewisse Verlässlichkeit – man kennt sie halt -,die Tatsache, dass es aber inzwischen 17 Ermittlerteams gibt (meiner Meinung nach sind das schon zwei, drei zuviel) sorgt dafür, dass die meisten von ihnen nur zwei, drei Auftritte pro Jahr haben. So guckt man sie sich nicht so schnell über.
Was den „Tatort“ meiner Meinung nach aber am meisten auszeichnet ist die Tatsache, dass er sich immer wieder aktueller Gesellschaftsthemen annimmt. Mal geht es um die Probleme alleinerziehender Väter, mal um Mitarbeiterüberwachung im Supermarkt, mal um den Leistungsdruck in Finanzunternehmen. Zugegeben: manchmal schießt dman mit dem moralisch erhobenen Zeigefinger vielleicht etwas über das Ziel hinaus. Andererseits: man spricht drüber und so wird das eine oder andere Tabuthema ins Licht der Öffentlichkeit gezogen. Manchmal regt ein Thema wirklich zum Nachdenken an oder macht einem erst mal bewusst, mit was für Problemen andere Menschen sich in der Realität herumplagen müssen – einfach weil man es hier mal mit der Kamera eingefangen sieht. Natürlich gibt es auch die 08/15-Ideal-Standard-Fälle, aber wenn bei einer Geiselnahme während einer dörflichen Hochzeit das soziale Gefüge der Dorfgemeinschaft seziert wird, merkt man, dass auch diese verstrickten Beziehungen sehr interessant sein können. „Wer kann mit wem? Warum ist der stinkig auf den anderen? Warum hält das Dorf trotzdem zusammen und deckt einen Täter?“ usw.
Manchmal bietet ein Thema sogar Denkanstöße mit nachhaltigen Folgen. 1998 hat der WDR beispielsweise eine „Tatort“-Folge produziert, die sich mit Kinderprostitution in Südost-Asien beschäftigt. Regisseur Niki Stein, den Darstellern und weiteren Mitgliedern der Filmcrew, die vor Ort in Manila sehen konnten, unter welch menschenunwürdigen Bedingungen Kinder dort ihren Körper anbieten müssen, gründeten den Verein „Tatort – Straßen der Welt e. V.“, der kurz nach Ausstrahlung bereits einen sechsstelligen Spendenbetrag vorweisen konnte. Der Verein besteht noch heute, die beiden „Tatort“-Kommissare stehen immer noch mit ihrem Gesicht für die Aktion ein.
Außerdem ist der „Tatort“ ein nie versiegender Quell an guten Darstellern. Viele Jungschauspieler konnten hier zum ersten Mal beweisen, was sie drauf haben. Bei uns gibt es die inzwischen häufig auftauchende Redewendung „Sicherlich mal in einem ‚Tatort’“ wenn man wieder ein unverbrauchtes Fernseh-Gesicht uns irgendwo her bekannt vorkommt. Und dann gibt es ja noch die echten Stars, die es immer wieder zum „Tatort“ zieht. Egal ob Til Schweiger, Joachim Król, Ulrich Tukur oder Axel Milberg – immer wieder wartet der „Tatort“ mit den beliebtesten und besten Schauspielern auf, ebenso in den Nebenrollen. Nicht ganz so häufig nimmt auch auf dem Regiestuhl jemand Platz, der sich in Filmkreisen schon einen Namen gemacht hat – unlängst etwa Christian Alvart, der mit „Pandorum“ bereits eine internationale (und sehenswerte) Filmproduktion vorzuweisen hat.
Natürlich kann ich auch die Kritik verstehen. Der „Tatort“ ist selten wirklich spannend, lebt für mich vielmehr durch die Chemie zwischen den Ermittlerteams als durch seine ausgeklügelten Fälle. Und auch wenn der letzte Münster-Tatort mit gut 12 Millionen Zuschauern neue Quoten-Rekorde aufgestellt hat, heißt das nicht immer, dass die Qualität auch stimmt: eben dieser „Tatort“ war der schlechteste seit Monaten. Dennoch: ich finde den „Tatort“ auch heute noch relevant, da er mit der Zeit gegangen ist, gerne herumexperimentiert, Anlehnungen an andere Genres versucht und immer wieder aktuelle Themen aufgreift. Ich stehe dazu: „Tatort“ gehört nach wie vor zu den Sendungen, für die ich gerne GEZ-Gebühren zahle.
Wie seht Ihr das? Gibt es unter Euch auch echte „Tatort“-Fans oder steht ihr mit der Krimiserie auf Kriegsfuß?