Drehbuch: Jaco Van Dormael
Schauspieler*innen: Jared Leto, Sarah Polley, Diane Kruger, Linh-Dan Pham
Kinostart D: (FSK 12)
Kinostart US: (FSK R)
Originaltitel: Mr. Nobody
Laufzeit: 2:21 Stunden
Filmkritik zu Mr. Nobody
Manchmal stößt man doch tatsächlich noch auf ganz besondere Filme, die ihre Genialität erst nach und nach offenbaren. „Mr. Nobody“ gehört mit Sicherheit dazu. Und der Film macht es einem anfangs auch wirklich nicht leicht. Ebenso wie ein befreundeter Filmliebhaber, habe auch ich den Film bei der ersten Sichtung nach ca. 15 Minuten wieder ausgemacht. Die Story ist verwirrend, ja teils verstörend und spätestens in dem Moment, wo man in einem komplett weißen Raum einen Mann mit vollflächiger Gesichtstätowierung und weißen Anzug sieht, glaubt man „Nee, das ist mir zu abgespaced.“ Aber: dranbleiben lohnt sich. Denn dieser Film des gänzlich unbekannten belgischen Regisseurs Jaco Van Dormael ist für mich ein echtes Meisterwerk.
Ich bin ein großer Freund von Episodenfilmen und kann auch dem Prinzip „Was-wäre-wenn“ oftmals sehr viel abgewinnen. Nicht zuletzt mein All-Time-Lieblingsbuch („Geschichte machen“ von Stephen Fry) basiert auf einer solchen Prämisse. Nun also „Mr Nobody“, ein Film, der dieses Spiel anhand unterschiedlicher Lebensläufe durchgeht, die letztendlich Lichtjahre weit auseinanderlaufen – obwohl sie alle auf klitzekleinen Entscheidungen beruhen, die jede für sich, gar nicht mal so darmatisch aussehen. Ich mag diese Spielereien in der Form von „Wie wäre mein Leben verlaufen, wenn ich in dieser oder jener Situation ‚Ja’ statt ‚Nein’ gesagt hätte?“. Mal wird die Liebe des Lebens gefunden, mal landet er bei einer Frau, die durch ihre psychischen Probleme sein Leben zu einer Horrorstory macht, mal lässt er den Zufall entscheiden und landet bei einer Frau, die ihn zwar liebt, für die er aber nichts empfindet.
Der Film lebt sicherlich nicht von großer Schauspielkunst, auch wenn Jared Leto (in jungen Jahren gespielt von Toby Regbo) mit leichten äußerlichen Variationen einen jeweils sehr guten Mr Nobody darstellt. Was den Film für mich so berauschend gemacht hat, ist seine Intensität, die er vor allem durch die hervorragende Kameraarbeit erhält. Ein ums andere Mal werden die verschiedenen Lebensentwürfe durch tolle Perspektivwechsel eingeleitet. Ein Beispiel: der achtjährige Nemo liegt in seinem Kinderzimmer auf dem Bett, im Hintergrund spielt die 50er-Jahre-Version des Klassikers „Mister Sandman“, die Kamera schwenkt nun einmal 360° durch das Zimmer. Als sie wieder bei Nemo landet, ist dieser plötzlich im Teenageralter und die 50er-Jahre-Version ist einer Punk-Version von „Mister Sandman“ gewichen. Der Film springt zigfach zwischen seinen verschiedenen Parallelwelten, was natürlich auch viele dieser tollen Perspektivwechsel produziert. Hinzu kommt, dass auch die sonstige Kameraarbeit zu dem besten gehört, was ich je gesehen habe.
Van Dormael hat mit seinen verschiedenen Lebensläufen bei mir genau den Nerv getroffen. So zeigt er in einem Moment, wie schön, wie einzigartig und allumfassend die Liebe zwischen zwei Teenagern sein kann, die sich gegenseitig die Ewigkeit versprechen. Wenige Minuten später sieht man Nobodys „andere“ Ehefrau, die mit ihren Weinkrämpfen während ihrer depressiven Phasen nicht nur für Nobody, sondern auch für ihre drei gemeinsamen Kinder das Leben zur Hölle macht. Aber was wäre geschehen wenn eben dieses Nervenwrack nur kurz nach der Hochzeit durch einen Unfall ums Leben gekommen wäre? Will heißen: „Mr Nobody“ zeigt nicht nur drei mögliche Leben, sondern verzweigt auch hier noch weiter in kleine Entscheidungen und Zufälle, die in dem jeweiligen Leben Einfluss auf dessen Fortgang haben. Nicht nur die Auflösung all der Szenen, die zu Filmbeginn verwirrend auf den Zuschauer einprasseln, lässt in mir den Wunsch entstehen, den Film gleich noch einmal zu gucken. Und ich bin mir dessen gewiss: einiges, das beim ersten Mal total verquer wirkte, wird nun Sinn machen – aber es bleibt noch genug Interpretationsspielraum, um den Film auch noch bei einer dritten Sichtung etwas Neues abzugewinnen.
Fazit: „Mr Nobody“ gehört zu den wenigen Filmen, die mich innerlich sehr berühren. Ein Film, der auf wunderbare und optisch imposante Weise aufzeigt, wie sehr kleine Details für den Fortgang des Lebens verantwortlich sein können. Zu all den persönlichen Entscheidungen kommt in einem kurzen Exkurs auch noch die Chaostheorie vom Wasserdampf, der in Brasilien aufsteigt und in den USA zu einem schweren Regenschauer führt. Wie sich alles fügt… Solche Geschichten mögen vielleicht nicht jedermanns Sache sein – für mich schien dieser Film aber eine perfekte Vorbereitung auf „The Cloud Atlas“ zu sein.