Bild: Kolar.io (CC0)

iPhone 11 Pro: Und der Rest ist „damals“

Ungefähr im 3. Quartal eines jeden Jahres betritt Tim Cook die Bühne und sagt: “Good Morning”. Es folgen Nutzerzahlen, App-Download-Rekorde und kleinere Software- oder Hardware-Updates. Und weswegen alle in San Francisco, Cupertino oder vor dem Bildschirm hängen, ist ebenfalls ähnlich zyklisch: Alle warten auf die Vorstellung des neuen iPhones.

Routinierter Ablauf

Wochen, wenn nicht sogar Monate zuvor geistern Leaks durch die Blogosphere. Zorn, Häme und “Ängste” treffen auf Ekstase, Gelassenheit und Gleichgültigkeit. Und wenn der Tag der Enthüllung endlich kommt und Tim Cook endlich “…and here it is.” sagt, geht es unverändert routiniert weiter: Apple befände sich seit 10 Jahren in einer Innovationsstarre, Android hat all diese Sachen schon seit 1987 und unter Steve hätte es so etwas nicht gegeben.

Und selbst wenn die Gemüter längst wieder auf ihre Ursprungsposition zurück gekehrt sind, bleibt es dennoch vorhersehbar: Apple verkauft Millionen Einheiten seines Flagship-Produkts. Und dass obwohl das neue iPhone doch “abgesehen von ein paar lächerlichen Updates doch exakt das gleiche” ist, wie das vom letzen Jahr. Und das zuverlässig jedes Jahr. Ein 3 Jahre altes Modell würde der gemeine Hater aber selbstverständlich nicht einmal mehr mit der Kneifzange anfassen wollen.
Wie passen die Superlativ-Verkaufszahlen aber nun mit dem Innovationsverdruss zusammen?

Evolution statt Revolution …erstmal

Nüchtern betrachtet ist der Sprung vom X aufs iPhone 11 Pro kaum erwähnenswert. Außer einen zusätzlichen Kameralinse und einem neuen CMF (Color, Material, Finish) ist an dem neuen iPhone nichts bemerkenswert. Das sog. Super Retina XDR Display setzt mit seinem Kontrastverhältnis 2.000.000:1 neue Maßstäbe. Zum Vergleich 1.000.000:1 waren es beim iPhone X vor 2 Jahren. Bemerkt hätte ich es im Alltag nicht.

Die Front-Kamera zieht nun mit den rückwärtigen Kameras gleich und bietet eine auf dem Papier ebenbürtige Auflösung von 12 Megapixel an. Force Touch wurde aus Kostengründen (und weil Apple wohl selbst bemerkt hat, dass es gar nicht so eine gute Idee war) gestrichen. FaceID funktioniert ein bisschen schneller. Der Prozessor ebenfalls. Akku und RAM sind etwas gewachsen.

So what?

Dennoch liebe ich mein iPhone 11 Pro. Es lässt mich staunen. Weil es eben ein iPhone ist. Weil es das Erfolgsrezept, das das iPhone seit Tag 1 erfolgreich gemacht hat, konsequent fortsetzt. Es ist ein verlässlicher Begleiter, der jeden heutzutage erdenklichen Use-Case im modernen Leben des beginnenden 21. Jahrhunderts abdeckt. Flugtickets vorzeigen, im Supermarkt bezahlen, Lichter zuhause steuern, Freunde und Familie per Video anrufen, links-swipe-rechts-swipe-Partnersuche, Autos mieten, nahezu jeden Song der Menschheitsgeschichte an meine kabellosen Kopfhörer übertragen, Fotos und Videos machen und mich wecken lassen. Das Götzenbild für ein goldenes Zeitalter.

Das iPhone 11 Pro ist herausfordernden Lichtsituationen gewachsen

Die Kamera macht den entscheidenen Unterschied

Doch warum liebe ich mein iPhone erneut? Hat mein iPhone X nicht auch schon all die oben genannten Disziplinen mit Bravour und Sternchen gemeistert? Ja, hat es. Was das iPhone 11 Pro für mich, einen unersättlichen Fotografen, ausmacht und unterscheidet ist die neue Kamera.
Apple setzt auf 3 Rückkameras mit unterschiedlichen Fixbrennweiten (Weitwinkel, “Normal” und Tele). Hinter jeder Linse fängt ein 12MP Bildsensor das Licht ein. Die Sensoren sind für ihre Größe in Ordnung, aber zu bemerken ist, dass der Sensor im Zusammenspiel mit der Weitwinkeloptik deutlich weniger Licht einfängt und damit trotz identischer Auflösung minderwertigere Bilder erzeugt, als die Sensoren der beiden anderen Brennweiten. Dennoch entpuppt sich die Weitwinkellinse, die ich ursprünglich für ein eher nutzloses Gimmick gehalten habe, als äußerst nützlich in vielen Alltagssituationen oder wenn man seinen Bildern einfach eine dramatischere Perspektive verleihen möchte.

Computational Photography

Der USP der iPhone-Kamera liegt jedoch nicht in der zusätzlichen Linse sondern im Buzzword “Computational Photography”.
Computational Photography” beschreibt eigentlich nichts anderes als die Bildverarbeitung, die im iPhone stattfindet, nachdem das Licht auf den Sensor trifft. Wie werden Schatten gegen Spitzlichter ausbalanciert? Wie hell soll das Bild eigentlich sein? Was ist auf dem Bild eigentlich zu sehen? Wie stark muss die Rauschunterdrückung über das Bild drüberbügeln? Alles Entscheidungen, die das iPhone innerhalb von Sekundenbruchteilen trifft. Doch damit nicht genug, Computational Photography beschreibt auch die “Errechnung” eines Bildes aus einer ganzen Reihe an Bildern und deren Eigenschaften. Und das ist der Punkt an dem es wild wird. So ermöglicht Computational Photography nahezu verwacklungsfreie Langzeitbelichtungen aus der Hand zu fotografieren, oder wie Apple es verbraucherfreundlich nennt: Night Mode.

Den Charme der Dunkelheit gut eingefangen und das Auto ausreichend belichtet

Night Mode

Dazu werden in nahezu völliger Dunkelheit dutzende Bilder in der Bildverarbeitungskette des iPhones erfasst und zu einem finalen Bild zusammengerechnet. Jeder, der ein wenig mit den physikalischen Grundprinzipien der Fotografie vertraut ist, kann hier einfach nicht anders als zu staunen. Das iPhone 11 Pro ist im Stande, in fast vollständiger Dunkelheit brauchbare Fotos zu erzielen, sowie Details und Farben in Bereichen freizulegen, die selbst dem menschlichen Auge verborgen bleiben.

Wie man sich das vorzustellen hat, wird am ehesten bei direkten Shoot-out mit gegen das iPhone X deutlich. Links das, was das iPhone X im Stande ist, aus einem dürftig erleuchteten Straßenbild rauszuholen; rechts der Night Mode des iPhone 11 Pro.

Sind die Bilder qualitativ mit “Schönwetterfotos”, die mit geringen ISO-Werten fotografiert werden, vergleichbar? Nein, sind sie nicht. Aber sie sind unvergleichlich detaillierter als das, was man man vom der iPhone X Kamera geliefert bekommt, die vor 2 Jahren noch im durchlauchtesten Kreis der besten Handykameras logieren durfte.

Android-Jünger schreien auf: Aber das gab es bei uns schon letztes Jahr. Ja, mag sein. Apple hat Computational Photography nicht erfunden. Ebensowenig Touchscreen-Handys und Videotelefonie. Was Apple jedoch immer auszeichnet ist die tadellose Integration neuer Technologien, die dadurch keine Spec auf dem Papier bleiben, sondern zu einem Mainstream-Feature erhoben werden. Mainstream-Features, die den Markterfolg sichern und den Fortschritt ganzer Industrien begründen.

Eine neue Ära der Fotografie ist angebrochen

Computational Photography hat in meinen Augen das Ende konventioneller Digitalfotografie eingeläutet, genauso wie Digitalfotografie das Ende der analogen Fotografie eingeläutet hat. Sicher wird es weder heute noch morgen schon soweit sein, aber der Tag wird kommen, an dem die Bilder aus einem Telefon, die Bilder, die man aus einer hochwertigen, digitalen Spiegelreflex-Kamera heraus bekommt, übertrumpfen werden.

Sicher: renommierte Kamera-Hersteller werden auch versuchen, ihre Kameras mit “Rechenpower” aufzumotzen, um so der wachsenden Konkurrenz der Mobiltelefone etwas entgegensetzen zu können. Das Problem hierbei sind jedoch die Kosten, denn das Mobiltelefon hat bereits Rechenleistung an Bord, die so manchen modernen Laptop vor Neid erblassen lässt. Diese Art von Rechenleistung in einer Kamera unterbringen zu müssen, erscheint da weder logisch noch ökonomisch.

Und so habe ich bei meinem iPhone 11 Pro, wie schon bei vielen iPhones zuvor, erneut das Gefühl, ein Gefühl für die Zukunft zu bekommen. Oder anders gesagt:

Ich liebe mein iPhone, denn mein iPhone lässt mich staunen.

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